Schließung von Pflegeeinrichtungen – kein Nebenprodukt einer „Insolvenzwelle“, sondern Systemversagen

Dieser Beitrag von Matthias Neumann, im Verein Solidarisch Sorgen e.V. angestellt, weist auf die Ursachen der zunehmenden Insolvenzen von Pflegeeinrichtungen in der Unter- und Fehlfinanzierung dieses Bereichs gesellschaftlicher Vorsorge hin. Er wurde auch auf der website des Netzwerks Care Revolution, https://care-revolution.org/, veröffentlicht, dem Solidarisch Sorgen als Kooperationsgruppe verbunden ist.

Eine Pressemitteilung des AGVP, eines der Unternehmensverbände im stationären Pflegebereich, schlug Anfang April kurzzeitig Wellen in den Medien. Sie weist darauf hin, dass aktuell eine zunehmende Zahl von Pflegeeinrichtungen Insolvenz anmelden oder schließen muss. In diesem Fall ist die Kritik des Verbands, dass Pflegekassen und Kommunen zu zögerlich Kosten übernähmen und beglichen. Das Thema der Schließung von Pflegeheimen, Pflegediensten und allgemein Care-Einrichtungen brennt seit Längerem unter den Nägeln, gerade angesichts der persönlichen Dramen, die sich hinter den Zahlen verbergen.

Der AGVP ist als „politische, wirtschaftliche und tarifliche Interessensvertretung der namhaftesten und umsatzstärksten Unternehmensgruppen der deutschen Pflegewirtschaft“ mit dem Slogan „Wir lieben Lobby“ (beide Zitate stammen aus einer Broschüre des Verbands) keine Quelle, der man unbesehen glauben sollte. Ob Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gesetzliche Regelungen der Arbeitszeit oder Mindestlöhne – Unternehmen blicken auf alle Themen aus der Perspektive ihrer Rentabilität.

Keine allgemeine „Insolvenzwelle“

Dass diese Meldung nur kurz auf- und schnell wieder untertauchte, liegt sicherlich auch daran, dass sie so gut ins allgemeine Reden von einer Insolvenzwelle, durch „Deindustrialisierung“ ausgelöst, passt und darin untergeht. Deshalb lohnt es sich, letztere Aussage zu prüfen: Je weniger an der Behauptung einer allgemeinen Insolvenzwelle dran ist, desto wichtiger ist es, nach Gründen in der Pflege selbst zu suchen. Zunächst ist festzustellen, dass die Hinweise auf eine von manchen behauptete „Deindustrialisierung“ in Folge des Ukraine-Kriegs und steigender Energiepreise dünn sind. Die Industrieproduktion geht in Deutschland im Trend seit 2018 zurück, ist also z.B. mit steigenden Energiepreisen seit Kriegsbeginn nicht begründbar.

Thema ist vielmehr eine langfristige Stagnation: Das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner*in lag in Deutschland 2024 auf dem Niveau von 2017 (S.5 der Quelle). Zusammen mit dem BIP/E stagniert auch die Arbeitsproduktivität (ebda., S.33). Die der wirtschaftlichen Dynamik zugrundeliegenden Exportüberschüsse gehen dabei tendenziell zurück, bestehen jedoch fort. Das ist sichtbar an der Entwicklung der Handelsbilanz. Da Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniert und auch Beschäftigung, Löhne und Staatseinnahmen von dessen Gelingen abhängen, lässt sich mit der Stagnation eine Krise des neoliberalen Modells konstatieren. Dessen zentraler Bestandteil ist die Krise sozialer Reproduktion, die sich unter anderem in stagnierendem Arbeitskräfteangebot, Fachkräftemangel in vielen Bereichen und einer wachsenden Zahl Menschen zeigt, die den Anforderungen der Unternehmen nicht mehr gerecht werden können und es auch nicht wollen. Unzureichende Ressourcen werden für die Ausbildung, für die Unterstützung Sorgearbeitender und auch für die materielle Infrastruktur aufgewandt. Die gewachsene Unsicherheit der Lebensperspektiven – durch einsetzende Klimakatastrophe und Kriegsgefahr verstärkt – , zunehmende Flexibilitätsanforderungen und gestiegene Arbeitsintensität hinterlassen Wirkung. Zwei der am besten dokumentierten Indizien für diesen Zusammenhang sind der Anstieg psychischer Erkrankungen (S.28 der Quelle) oder der Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten (S. 13ff. der Quelle).

Die plötzlich einsetzende Krise, die Insolvenzen im Care-Bereich einfach miterklären würde, gibt es also nicht. Umgekehrt tragen die Auswirkungen der permanenten Überlastung der entlohnt und unentlohnt Arbeitenden auf die Ökonomie zur dauerhaften Krisenkonstellation bei. Ausführlicher dargestellt findet sich dies hier oder in Gabriele Winkers Buch „Solidarische Care-Ökonomie“. Auch eine allgemeine „Insolvenzwelle“, die alle Branchen betriff, ist so zur Zeit nicht beobachtbar. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen liegt trotz starkem Anstieg in den letzten zwei Jahren noch deutlich unter dem Durchschnitt von ca. 1995 bis 2015. Momentan ist etwa das Niveau von 2015 erreicht. Es handelt sich aktuell also eher um eine Wiederherstellung des kapitalistischen Normalzustands, nach den Corona-Überbrückungsleistungen und insbesondere nach der Phase niedriger Zinsen, die auch unrentablen Unternehmen den Fortbestand ermöglichte. Allerdings geschieht dies durchaus unter der Bedingung einer ins Stocken geratenen Akkumulation und unter Umständen, die eine globale Krise möglich erscheinen lassen.

Insolvenzen von Pflegeeinrichtungen – Ursachen in der Pflegefinanzierung

Dass es bei den Insolvenzen um ein Phänomen geht, das die Care-Infrastruktur ganz besonders trifft, zeigt eine Aufschlüsselung nach Branchen, die das Institut für Mittelstandsforschung auf Basis von Zahlen des Statistischen Bundesamts vorgenommen hat. Dort ist der viel höhere Anstieg der Insolvenzen im Gesundheits- und Sozialwesen, verglichen mit anderen Branchen, ablesbar. In der eingangs erwähnten Meldung des AGVP wird ohne weiteren Nachweis von 1200 Insolvenzen oder Schließungen von Pflegeeinrichtungen in den Jahren 2023 und 2024 gesprochen. Diese Zahlen lassen sich jedoch bestätigen: Nicht exakt, aber von der Größenordnung her stimmen sie mit denen des Portals pflegemarkt.com überein. Hier werden für den Zeitraum von Anfang 2023 bis Februar 2025 ca. 1100 Insolvenzen und Schließungen von Pflegeeinrichtungen mit insgesamt knapp 50.000 betreuten Menschen genannt. Diese Werte beinhalten ambulante Dienste (36.370 betreute Personen), Pflegeheime (10.112 Plätze) und Tagespflegeeinrichtungen (3.235 Plätze). Das ist natürlich ein dramatisches Versagen des Pflegesystems, wenn man um die Schwierigkeit weiß, Plätze in der ambulanten oder stationären Pflege zu erhalten.

Der AGVP benennt insbesondere die Pflegekassen und Kommunen als Verursacher*innen, indem sie zu zögerlich die Kosten übernähmen. Nun muss zunächst festgestellt werden, dass bislang Pflegeunternehmen durchaus florieren: Seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wuchs der Anteil privater, renditeorientierter Anbieter jährlich an, so dass in der ambulanten Pflege mittlerweile ca. 60 Prozent der betreuten Personen von privaten Pflegediensten betreut werden. In Pflegeheimen werden ca. 40 Prozent der Pflegeplätze von privaten Unternehmen angeboten.

Es liegt also nahe, dass, wenn die Kassen zögerlicher zahlen, sie selbst in Problemen sind. Denn ein grundlegend unfreundliches Umfeld für Rendite in der Pflege stellen sie offensichtlich nicht dar. Für diese finanziellen Probleme gibt es auch Hinweise. Nach einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts hat im März die erste Pflegekasse beim Bundesamt für Soziale Sicherung eine Finanzhilfe beantragt. Insgesamt hat die gesetzliche Pflegeversicherung das Jahr 2024 mit einem Defizit von 1,54 Mrd. € abgeschlossen. Daran wird sich trotz der gestiegenen Beiträge zur Pflegeversicherung grundlegend nichts ändern. Zu den gestiegenen Belastungen der Kassen trägt auch bei, dass der permanente Anstieg des Eigenanteils der Gepflegten an den Pflegeheimkosten – Leidtragende sind insbesondere die Pflegebedürftigen und ihre Familien, aber auch die Kommunen – seit Anfang 2024 durch höhere Zuschüsse der Pflegekassen abgefedert wird. Das neoliberale Konstrukt, Pflegebedürftigkeit als individuell zu tragendes Schicksal statt als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und deshalb auf eine Vollversicherung zu verzichten, führt zur Entlastung Reicher und Gutverdienender und zur Belastung aller anderen.

Eine zentrale Ursache für die gestiegenen Kosten ist der Fachkräftemangel. Dieser ist zentral in den Arbeitsbedingungen in der Altenpflege begründet und führt dazu, dass trotz des Bedarfs die Zahl der Pflegeheimplätze seit 2017 weitgehend stagniert. Dass insbesondere die belastenden Arbeitsbedingungen – insbesondere erzwungene Flexibilität, zu wenig Zeit für die Betreuten, hohe Arbeitsintensität – der Grund sind, dass ausgebildete Pflegekräfte den Beruf wechseln oder ihre Vertragsstunden verringern, geht seit langem durch die Medien. Dass dies tatsächlich die zentrale Ursache des Fachkräftemangels ist, bestätigt auch eine umfangreiche Studie, die von der Arbeiterkammer Bremens und der Arbeitskammer des Saarlands in Auftrag gegeben wurde. Sie beruht auf Daten von 2021 (Befragung von deutlich über 10.000 Personen zu den Voraussetzungen zur Rückkehr in den Beruf oder der Aufstockung der Vertragsstunden) und kommt zum Schluss, dass bei besseren Arbeitsbedingungen auch das benötigte Personal verfügbar wäre; zumindest wäre auf diesem Weg der Großteil des Problems zu lösen.

Vor allem wegen des Fachkräftemangels steigen die Löhne in der Altenpflege überdurchschnittlich schnell (S. 2-6 der Quelle). Während von 2012 bis 2023 die Reallöhne aller Fachkräfte (dreijährige Ausbildung) um durchschnittlich 4 Prozent stiegen, erhöhten sich die Löhne für Altenpfleger*innen um durchschnittlich 29 Prozent. Für Altenpflegehelfer*innen ist die Entwicklung ähnlich. Im Ergebnis liegen die Löhne für Altenpfleger*innen seit 2020 über dem Durchschnitt aller Fachkräfte, für Altenpflegehelfer*innen sind sie seit 2022 über dem entsprechenden Durchschnitt. Jedoch relativieren sich im Vergleich steigende Löhne, wenn die Arbeit nur in Teilzeit durchhaltbar ist: Der Beruf bleibt unattraktiv.

Grundlegend für die Lohnentwicklung ist also die Arbeitsmarktsituation. Einen zusätzlichen Schub gab es jedoch durch das „Tariftreuegesetz“, das seit September 2022 Pflegeeinrichtungen verpflichtet, tarifliche oder regional übliche Löhne zu zahlen. Genau dies sieht die AOK als Quelle der Probleme der Pflegeeinrichtungen. Sie verweist auf eine im November 2024 vorgestellte Studie, der zufolge der Anteil der Personalkosten am Umsatz ambulanter Pflegedienste innerhalb von zwei Jahren, 2021 bis 2023, von 67% auf 72% gestiegen ist. In ihrer Interpretation geht die AOK jedoch äußerst selektiv vor. Nicht wiedergegeben wird die zentrale Schlussfolgerung: „Die Umsetzung der höheren Lohnvergütung für Pflegekräfte ist wichtig und richtig, um die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Pflegekräfte zu verbessern. Die unzureichende Refinanzierung der Personalkostenerhöhungen hat erhebliche Auswirkungen auf die Liquidität ambulanter Pflegebetriebe.“ (S. 5)

Es bleiben jedoch die oben erwähnten finanziellen Probleme der Pflegekassen selbst; die Unterfinanzierung der einen wird durch die Unterfinanzierung der anderen verursacht. Leidtragende sind Pflegebedürftige, pflegende Angehörige, die über ihren Wunsch und ihre Kräfte hinaus die häusliche Pflege übernehmen, sowie die Beschäftigten. Zudem ist zu befürchten, dass sich Pflegekassen und Kommunen, renditeorientierte und andere Träger der Pflegeeinrichtungen sowie die Bundesregierung bei der Dequalifizierung der Care-Arbeit treffen werden. Denn diese erhöht, wenn sie durchgesetzt wird, zugleich das Arbeitskräftepotential und senkt die Lohnkosten. Die Zerlegung der Pflegearbeiten in qualifizierte und unqualifizierte Tätigkeiten und in der Folge die Senkung der Fachkräftequote ist ebenso wie die zunehmende Mobilisierung „ehrenamtlicher“ Arbeit in der Diskussion.

Solidarische Antworten auf die Krise

Dabei ist es für Antworten, die von den Bedürfnissen Pflegender und Gepflegter ausgehen, wichtig, hier differenziert zu argumentieren. Zum einen muss auf jeden Fall mehr Geld in die Altenpflege. Wie dies auf solidarische Weise geschehen kann, zeigen beispielsweise die Vorschläge von ver.di und dem Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung: Alle Einkommensarten in die Beitragsbemessung einbeziehen, Aufhebung der Bemessungsgrenze für hohe Einkommen, Aufhebung der Trennung in gesetzliche und private Pflegeversicherung. Geld ist genug da, das aktuell beispielsweise in Luxuskonsum fließt. Wenn das Argument nicht trägt, dass gute und bedarfsgerechte Versorgung in Pflegeeinrichtungen nicht finanzierbar sei, bleibt jedoch, dass es in vielen Fällen für bedürfnisgemäße Pflege wichtig ist, dass Freund*innen, Verwandte oder allgemein Menschen, die sich engagieren wollen, einbezogen werden. Ebenso wollen Gepflegte nicht aus ihrem sozialen und räumlichen Umfeld gerissen werden; die Debatte um Caring Communities ist nicht einfach ein Trick zur Kostensenkung. Entscheidend ist, dass unentlohnt Engagierte nicht in (Alters-)Armut und Überforderung gedrängt werden, dass sie bei Bedarf Aufgaben abgeben können, dass sie die notwendige fachliche und technische Unterstützung durch Pflegeeinrichtungen erhalten und dass Tages- und stationäre Pflege verfügbar und qualitativ hochwertig sind, wenn es anders nicht mehr geht.

Hier gibt es im Netzwerk Care Revolution ein Bündel von Ansätzen, die jeweils von vielen Mitgliedern getragen werden: Renditeorientierte Unternehmen raus aus der Pflege, Demokratisierung der Care-Einrichtungen, gemeinschaftlich gestaltete Care-Lösungen im Stadtteil, die über die Beschränkungen der Kleinfamilie hinausgehen, mehr Zeit für Care durch Lohnarbeitszeitverkürzung und erwerbsunabhängige, sanktionsfreie Absicherung der Einzelnen. Dazu natürlich der Ausbau der Care-Infrastruktur durch einen solidarischen Umbau der Sozialversicherungen, wie er oben skizziert ist.

Richtige Forderungen sind das Eine, ihrer Durchsetzung näher zu kommen, das andere. Hier liegt viel Nachdenken, Suchen und Ausprobieren in Konflikten vor uns. Dabei ist das, was gerade in der Altenpflege passiert, nicht einfach auf die Schließungen in der stationären Krankenversorgung, auf Arztpraxen, Kitas oder soziale Dienste übertragbar. Alle diese Felder funktionieren unterschiedlich, wenn es um die Finanzierung der Leistungen geht, wenn es darum geht, wie und wie sehr sie neoliberal umstrukturiert wurden und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Politik. Dennoch sollten verallgemeinerbare Forderungen und die verschiedenen Akteur*innen zusammenführende Kämpfe möglich sein. Was bleibt uns angesichts der Lage auch anderes übrig?!