Für den Blog Postwachstum des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung schrieben Kirsten Dohmwirth, Mitarbeiterin im Verein Solidarisch Sorgen, und Liska Beulshausen (Wirtschaft ist Care) den im Folgenden dokumentierten Beitrag. Der Artikel ist im Original hier zu finden: https://www.postwachstum.de/care-zentrierung-als-neue-degrowth-vision-20241210
Die in den letzten Jahren immer größer und bedeutender werdende „Care-Bewegung“ zeichnet die Vision einer care-zentrierten Gesellschaft und Wirtschaft. Ein Aufgreifen dieser Forderung könnte die „weniger ist mehr“ Erzählung der Degrowth-Bewegung um eine lebensnahe, anschlussfähige und konkrete Zukunftsvision ergänzen.
Wir verfolgen in diesem Artikel einen weiten Care-Begriff, der die unbezahlten und bezahlten (re)produktiven Tätigkeiten des Sorgens, Kümmerns, Fürsorge und Selbstsorge und die Verantwortung für diese Tätigkeiten (Mental Load) umfasst. Dazu gehört ebenfalls die Sorge für unsere Umwelt und damit dafür, dass wir als Gesellschaft unter Beachtung der planetaren Grenzen wirtschaften.
Care-Arbeit unter Profitdruck
Eine Überwindung des Wachstumszwangs in der Wirtschaft ist für Care-Aktivist*innen ein zentrales Anliegen, denn Care-Arbeit leidet besonders unter dem Profitdruck im derzeitigen Wirtschaftssystem. Wenn nur die Arbeit zählt, die monetär quantifizierbar ist, wird unbezahlte oder nicht quantifizierbare Arbeit systematisch abgewertet oder unsichtbar gemacht. Arbeiten im Haushalt, Betreuung von Kindern, Pflege von Angehörigen, Engagement im Sportverein werden nicht als „wirtschaftlich“ verstanden. Auch Zwischenmenschliches, wie ein zugewandtes Gespräch oder ein respektvoller Umgang bei körperlicher Unterstützung, kann nicht einbezogen werden. Das hat beispielsweise in der bezahlten Pflege fatale Folgen, in der Profit durch möglichst kurze Pflegezeiten pro Person ermöglicht werden soll. Aber Vorgänge wie Waschen, Anziehen oder Zuhören verlieren an Qualität, wenn sie immer schneller durchgeführt werden. Quantität vor Qualität bedeutet dann, dass Menschen nicht die Pflege bekommen, die sie brauchen und Pflegende ihre Arbeit nicht auf die Art und Weise ausführen können, wie sie angebracht wäre.
Dabei sind alle Menschen im Laufe ihres Lebens auf Care angewiesen. Sich umeinander zu kümmern ist ein zentrales menschliches Bedürfnis. Wenn alle Menschen gut versorgt sind und es genügend Ressourcen und Zeit gibt, andere zu versorgen, trägt dies zum Wohlbefinden der Menschen und zum Wohlstand der Gesellschaft bei. Wir müssen also die Frage stellen, wie wir uns als Gesellschaft so organisieren können, dass die Fürsorge im Mittelpunkt steht und das bereitgestellt wird, was es für ein gutes Leben braucht.
Visionen einer Ökonomie der Fülle
An diesem Punkt findet sich ein vielversprechender Anknüpfungspunkt an die Degrowth-Bewegung. Wenn Wirtschaftswachstum, wie wir es derzeit kennen, zurückgefahren wird, was tritt dann an die Stelle des Wachstums? Die gesamtgesellschaftliche Produktion, insbesondere nicht gebrauchte, klimaschädliche Konsumgüter, sollen zwar schrumpfen und das Bruttoinlandsprodukt als wirtschaftliche Kennzahl, die den Wohlstand eines Staates anzeigt, verschwinden. Doch bestimmte Bereiche wie Bildung, Gesundheit, erneuerbare Energien oder Wälder dürfen und sollen weiter ausgebaut werden. Welche Bereiche sind also so wichtig für eine Gesellschaft, dass sie in einer Postwachstumsgesellschaft weiter gefördert werden sollen und wie kann dies gelingen?
Eine Fokussierung auf Care hat dabei gegenüber dem Degrowth-Narrativ einige Vorteile: In dem Begriff Degrowth wird noch immer Bezug auf Wachstum genommen, jedoch negativ. So hat Degrowth die Konnotation von Verzicht und vermittelt nur indirekt eine positive Zukunftsvorstellung. Mit der Erzählung von Care und Fürsorge kann eine positive und leicht verständliche, an die Lebenswelt von Menschen anknüpfende Vision geschaffen werden. In den letzten Jahren hat die Care-Bewegung bereits bewiesen, dass sie diskursiv stark ist. Beispielsweise mit dem Slogan des Berliner Bündnis „Gesundheit statt Profite“, dem viele Menschen zustimmen können. An diese Erfolge kann angeschlossen werden, wenn es darum geht, ein neues, positives ökonomisches Leitbild zu erschaffen. An die Stelle einer Verzichts-Erzählung tritt dann die Erzählung von Fülle.
Eva von Redecker beschreibt diese als „feminst economy of abundance“ (feministische Ökonomie der Fülle) und führt aus, dass damit „ein Reichtum und eine sinnliche Fülle materieller Absicherung eintreten kann, von der wir im Kapitalismus nicht mal träumen können“ (v. Redecker et al. 2022: 50). Was als Gewinn und was als Verzicht gilt, wird in diesem Narrativ umgedeutet. Zeit, Sorge, Nahrung und Schutz treten dann an die Stelle von übermäßigem Konsum.
Mit dem Narrativ von Care-Zentrierung rückt also eine positive Zukunftserzählung in den Vordergrund, die versucht, vergangene und gegenwärtige Strukturen zu überwinden. Aus der feministischen Ökonomie kommen theoretische Leitlinien und Überlegungen, die diese Erzählung konkreter werden lassen. Beispielsweise können hier die Handlungsregeln des Netzwerks Vorsorgendes Wirtschaften benannt werden, die für eine demokratische Neuorganisation der Wirtschaft unter Einbeziehung der sogenannten reproduktiven Sphäre plädieren. Sie fordern unter anderem eine neue Bewertung der Leistungen der Natur und der unbezahlten Sorgearbeit, neue Formen solidarischer sozialer Sicherungen oder kooperativer Daseinsvorsorge und eine neue Rationalität der Besonnenheit statt Gewinnmaximierung (von Winterfeld/ Biesecker 2013: 397). Noch konkretere Vorschläge, wie so eine Umsetzung aussehen könnte, finden sich in der Idee der sogenannten Care-Abgabe (Saave-Harnack 2019).
Best Practice: Die ‚Sorgende Stadt‘ Barcelona
Auch in der Debatte um demokratische Planung und Vergesellschaftung spielt Care eine zentrale Rolle. Denn ein gesellschaftliches Aushandeln darüber, was wir als Gesellschaft benötigen, stellt erneut Bedürfnisse und Fürsorge in den Mittelpunkt. Der Fokus auf Care ist auch für künftige Entwicklungen wichtig, denn gut ausgebaute, lokal verankerte Care-Infrastrukturen für alle sind eine Säule sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherung, welche durch die Klimakrise weiter an Bedeutung gewinnen. Im Gegensatz zu anderen Bereichen wie Verkehr besteht eine große Anschlussfähigkeit, da für viele Menschen klar ist, dass Profite und Privatisierung nicht in den Care-Bereich gehören.
Ein großer Vorteil ist, dass die Idee der care-zentrierten Wirtschaft nicht nur als Narrativ und in theoretischen Vorlagen stark ist, sondern mit den „Sorgenden Städten“ auch einen real-existierenden Bezugspunkt hat. Die Idee der Sorgenden Städte (und Dörfer) stammt aus dem spanischen Munizipalismus und wird in Deutschland mit dem Zusatz „feministisch Vergesellschaften“ vertreten (Fried und Wischnewski 2023). Denn ein Ziel der Sorgenden Städte ist es, zum einen die bezahlte Sorgearbeit schrittweise dem Markt zu entziehen und zurück in demokratische Finanzierungs- und Organisationsstrukturen zu übergeben. Zum anderen soll die häusliche Sorge entindividualisiert und in kollektive Verantwortung gegeben werden. Care und Sorge sind hier also ganz praktisch der Ausgangspunkt einer Wirtschaftstransformation, die zum Ziel hat, Bedürfnisbefriedigung aller durch kollektive Aushandlungsprozesse zu erreichen.
In Barcelona wurde basierend auf diesen Zielen zwischen 2017 und 2020 unter der Regierung von Barcelona en Comú ein Paradigmenwechsel in der kommunalen Wirtschaftspolitik vorangetrieben (Ezquerra und Keller 2022). Anstatt Pflege und Betreuung als individuelles Problem darzustellen, wurde Care politisiert und als kollektive Aufgabe betrachtet. Bei der Erstellung der lokalstaatlichen Strategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit (Medida de Gobierno per una Democración de los Cuidados) wurde nicht von Hilfsbedürftigkeit auf der einen und autonomen Subjekten auf der anderen Seite ausgegangen, sondern das Konzept der Interdependenzen aufgenommen. Auf administrativer Ebene wurde die lokalstaatliche Strategie zur Demokratisierung der Sorgearbeit im Dezernat für Arbeit, Wirtschaft und strategische Planung der Stadtverwaltung angesiedelt. Dadurch wurde die Aufteilung von dem, was als Arbeit zählt aufgelöst und das Dezernat veranlasst, sich mit dem Thema der unbezahlte Sorgearbeit und dem informellen Sektor auseinanderzusetzen. Wurden zuvor soziale Dienste für Pflege- und Betreuungsaufgaben als verantwortlich für Sorgearbeiten gesehen, war nun das Thema Care im politischen Diskurs und wurde als Teil der lokalen Wirtschaft behandelt.
Parallel zu den internen Prozessen in der Stadtverwaltung wurde durch verschiedene Maßnahmen, wie Informationskampagnen, Studien oder Debatten, die Anerkennung der Bedeutung von Sorgearbeit vorangetrieben und das öffentliche Bewusstsein für das Thema geschärft. Außerdem wurden praktische Maßnahmen auf ganz unterschiedlichen Ebenen umgesetzt, wie ein kommunales Informations- und Beratungszentrum für pflegende Angehörige, in der häuslichen Pflege Arbeitende und ihre Familie; ein kommunales Kinderbetreuungsprogramm, das außerhalb der klassischen Schul- und Kindergartenöffnungszeiten Betreuung bereitstellt und die sogenannten lokalen Care-Blöcke, die eine Neuorganisation der häuslichen Pflege und damit sowohl bessere Arbeitsbedingungen sowie eine qualitativ hochwertigere Pflege ermöglichen.
In Deutschland greift die Kampagne „Sorge ins Parkcenter“ die Idee der Sorgenden Stadt auf und fordert, ein leerstehendes Kaufhaus zu einem Sorgezentrum umzubauen und so Sorgestrukturen im Kiez zu verankern.
An dem Beispiel der Sorgenden Städte sehen wir nicht nur, wie ein Wirtschaftssystem aussehen könnte, das Fürsorge und nicht Profit in den Mittelpunkt stellt, sondern auch, durch welche Maßnahmen dies auf lokaler Ebene verankert werden kann. Eine Abkehr von einem Wachstumsparadigma wurde in Barcelona in Ansätzen erlebbar. Eine Care-zentrierte Wirtschaft wie in den Sorgenden Städten kann so eine Vision für eine Postwachstumsgesellschaft mit Fokus auf Bedürfnisorientierung und Fürsorge sein.
Quellen:
Ezquerra, Sandra u. Christel Keller (2022): Für eine Demokratisierung der Sorgearbeit. Erfahrungen mit feministischen Care-Politiken auf kommunaler Ebene in Barcelona. https://www.rosalux.de/publikation/id/46442/fuer-eine-demokratisierung-der-sorgearbeit
Fried, Barbara u. Alex Wischnewski (2023): Feministisch vergesellschaften. Kommunalpolitische Strategien für eine Sorgende Stadt. In: Öffentlicher Luxus, Hrsg. Communia & BUNDjugend, 64 – 89. Berlin: Dietz.
Saave-Harnack, Anna (2019): Die Care-Abgabe. Ein Instrument Vorsorgenden Wirtschaftens? In: Perspektiven einer pluralen Ökonomik, Hrsg. David J. Petersen et al., 367-393. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Eva von Redecker, Maja Göpel, Margarita Tsomou (Hg.) u. Maximilian Haas (Hg.) (2022): Schöpfen und Erschöpfen. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.
von Winterfeld, Uta u. Adelheid Biesecker (2013): Es geht nicht allein. Vorsorgendes Wirtschaften braucht neue Gesellschaftsverträge. In Wege Vorsorgenden Wirtschaftens, Hrsg. Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften, 385–401. Marburg: Metropolis-Verlag.